An den Rand notiert: Grundlagen II

Andreas Burmester

Die Neuerschließung weiterer Preislisten und die zeitfressende Korrektur und Ergänzung unserer Altdaten hinterließen ein Stapel von Notizen. Es sind rasch notierte Auffälligkeiten und Besonderheiten, die im engeren oder weiteren Kontext zu unserer Thematik stehen. Kurz Marginalien, die aber dann doch in ihrer Gesamtsicht ein lebendiges Bild zeichnen.

Das Auffälligste: Unser Projekt greift weit über die Technische Kunstgeschichte hinaus. Es reicht bis in die Kulturgeschichte, Pharmaziegeschichte, Chemiegeschichte, Ortsgeschichte, Architekturgeschichte, Rechtsgeschichte … . Es wäre also sträflich gewesen, den Webauftritt nicht durch meine Randnotizen anzureichern. Vielleicht werden unsere Funde manchem Historiker eine Anregung, verleihen einer derzeit an deutschen Universitäten schwach vertretenen Pharmaziegeschichte Aufschwung und bereichern mancherorts die Regionalgeschichte.

Vieles sprach dafür, die Preislisten nicht nach Datum geordnet, sondern im Hinblick auf eine breit angelegte Betrachtungsweise nach dem Zufallsprinzip, nach Angebot, nach Neugier zu bearbeiten, also in einer Weise, die keiner Zeit zwischen 1550 und 1800 den Vorrang gab. Dadurch bezeugen meine mal hier, mal dort angefallenen Randnotizen historische Zusammenhänge in neuer Montage. Sie erzählen von einer Zeit, die wir zu kennen meinen, die sich uns jedoch mit Hartnäckigkeit entzieht. Wie gerne hätte ich die Offizin einer historischen Apotheke einmal erlebt oder die Lagerräume eines Materialisten durchstreift! Wer würde beim Blick durch die Fenster auf eine fast historisch zu nennende Einrichtung der letzten alten Apotheke des Ortes nicht neugierig?

Blick in eine Apotheke des 17. Jhs. (Frankfurt 1668, Staatsbibliothek Bamberg)

Wiederholungen – so zur leidigen Frage des Pfundes, zu Währungsunsicherheiten oder zu den Pflichten des Apothekers – sind in solch einem Zettelstapel unvermeidlich. Um dem Leser gleichwohl einen zeitlichen Verlauf zu bieten, ist der Text in Vierteljahrhunderte gegliedert. Er wird, wenn eine weitere Liste den Datenbestand bereichert, organisch wachsen. Der Zeitablauf kann dabei nicht strikt chronologisch sein: In manchen Fällen werden spätere Neuauflagen in textlichen Zusammenhang mit früheren Ausgaben gestellt, Rückverweise in späteren Kapiteln suchen diesen Vorgriff abzumildern.

In den Wochen, in denen ich die neue Webseite erstmalig mit Inhalten bestückte, fragte ich mich, wo ich eigentlich stehe? Wie weit bin ich gekommen und wieweit hat sich mein Bild gegenüber dem verändert, was ich bei Wiederaufnahme des Projektes im Kopf hatte? Viel schmerzhafter: Warum war dieses Projekt liegengeblieben? Ich denke aus gutem Grund. Der mühsame Zugang zu analogen Primärquellen – den über viele Bibliotheken und Archive verteilten Apothekenpreislisten –, die beruflichen Belastungen und ein Gefühl der Redundanz spielten sicherlich eine Rolle. Wenn ich ehrlich bin, hat sich an letzterem nichts geändert. Doch die Ausgangslage ist jetzt eine ganz andere: Die heute einfache Suche im Zentralen Verzeichnis Digitalisierter Drucke (ZVDD) wie auch im Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK). Die Möglichkeit, innerhalb kurzer Zeit auf ein, irgendwo als PDF wartendes Digitalisat zugreifen zu können. Der freie Zugang zur Information. All dies trug wesentlich dazu bei, allen Mut zur Wiederaufnahme dieses schönen Projektes zu sammeln und die Arbeit zu beginnen.

Mein Eindruck hat sich gefestigt, dass das Angebot an Waren im betrachteten Zeitraum ebenso stabil war, wie sich die Naturheilkunde wenig wandelte. Wo irgend möglich, griff der Apotheker auf bewährte, örtliche Heilpflanzen, Blätter, Blüten, Früchte, Rinden, Hölzer ... zurück, die er mit seinen Gehilfen in den Sommermonaten sammelte. Dieses reiche Angebot der Natur ergänzte er mit „außländischen Waren“, die er von Messen, aber in der Regel von örtlichen Materialisten bezog. Dies betraf insbesondere die Öle, Gummen und Harze, aber auch kostbare Waren wie Safran oder Bergblau. All sie waren regional nicht verfügbar, ja ihre Herkunft blieb häufig im Dunkeln und die Zusammensetzung ein Geheimnis. Ein Brocken eines Harzes war eben gelb, klebrig und sichtbar verunreinigt. Die für ihn gewählte Bezeichnung (z. B. Kopal) verdeckte oft die Tatsache, dass „seine Natur“ und damit die Eigenschaften weit variieren konnten. Von je weiter weg die Waren kamen, desto unsicherer war, ob die angegebene Herkunft stimmte oder ob einem ein billiges Ersatzprodukt untergemogelt wurde: So musste sich jeder, der in der Handelskette stand, auf seine Erfahrung, auf seinen Geschmacksinn, seine Augen, seine Nase, seinen Tastsinn verlassen.

Grundriss der historischen Hagenmarkt Apotheke in Braunschweig,
Handzeichnung R. Bohlmann um 1959

Der stabile Warenkanon erklärt die oben beklagte Redundanz: Sie ist ein Tribut an das Projektziel, für möglichst viele Städte und verschiedene Zeiten ein Preisschema zu erschließen, das der Technischen Kunstgeschichte bei der Einschätzung von Kostenfragen hilfreich ist. Kostenfragen (z. B. für eine Raumausstattung, für eine gefasste Skulptur usw.) sind bislang wenig erforscht. Doch wie erfolgreich die Auswertung eines Einnahmen- und Ausgabenbuches aus dem ausgehenden 16. Jh. durch Ursula Haller oder die Funde zu Venino und Tiepolo durch Stefanie Correll sein können, kann als Früchte einer geduldigen Verknüpfung von Preislisten mit lokalem künstlerischen Geschehen gesehen werden.

Der Rahmen ist also klar: Beliefert von Messen in Leipzig oder Frankfurt, vielleicht auch von Märkten in Hamburg, Nürnberg oder Straßburg konnte das Angebot einer Apotheke, konnte der Warenkorb nicht größer sein als das Angebot der Messen. Der Catalogus Frankfurt 1582 und die eng damit in Verbindung stehende Taxe Worms 1582 geben uns hier Gewissheit: Letztere bot alles, was zur Herstellung pharmazeutischer Rezepturen nach gängigen Dispensatorien und Pharmacopöen benötigt wurde. Der Catalogus steckt ein weit größeres Warensortiment ab. Hierin bewegen wir uns, nur aus diesem konnte Worms 1582 wie jede weitere Taxe schöpfen.

War eine Ware von pharmazeutischer Relevanz, stand ihr Name fest und bestand bei der Benennung auf Latein kein großer Spielraum. Die lateinischen Bezeichnungen wurden so auch mein Leitfaden für die gewissenhafte Durchsicht der vielen Listen. Erst in der deutschen Bezeichnung schlugen dann sprachliche, vom Dialekt geprägte Besonderheiten, manchmal auch Missverständnisse durch. Wendete sich die erste Spalte der meisten Apothekentaxen also an den lateinkundigen Pharmazeuten und Gesellen, richtete sich die zweite an seinen Lehrling und vor allem den Kunden. Die Beschriftung der Bevorratungsgefäße folgt den Warenbezeichnungen der ersten Spalte, der Dialog mit dem Kunden mit Sicherheit der zweiten.

Doch dabei blieb es nicht: Das pharmazeutisch unverzichtbare Sortiment wurde um Waren des Alltags erweitert: Seien dies Nürnberger Lebkuchen, gebrannte Mandeln, "heilende" Schnäpse, venezianische Seifen, Duftkerzen oder aber eben Farben. Für sie wird auf eine lateinische Bezeichnung in den Fällen oft verzichtet, in denen es keine pharmazeutische Verwendung gibt: Während Blattgold noch zum Vergolden von Pillen diente, findet sich für Kesselbraun nur eine Anwendung als Farbe außerhalb der Apotheke. Dort war die Alltagssprache war deutsch.

Was nach draußen geht, wird dann in der Regel im Loth und im Krämerpfund verkauft. Beziehen sich die Pfundpreise in den Listen auf ein Medizinalpfund, war der Apotheker in sehr vielen Orten – man möchte fast sagen, in der Regel – gezwungen, im Handkauf – also nach außen – noch ein Drittel an Gewicht oben draufzulegen. Der Preis war im Handkauf also um ein Viertel günstiger und der Apotheker bekam pro Gramm ein Viertel weniger - eine Art Mengenrabatt.

Was mir früher entgangen war: Ich sollte den Pulveres mehr Aufmerksamkeit schenken. Oder besser der Darreichungsform. Nichts leichter, als sich ein Pulver in eine Papiertüte abfüllen zu lassen! Doch so einfach war das mit dem Pulvern nicht! Einen Giftstoff, ein Gummi oder ein Harz zu pulverisieren, warf besondere Schwierigkeiten auf: Ohne Vorsichtmaßnahmen war nicht mit Giftstoffen umzugehen. Bei den Gummen und Harzen ging im Sommer nichts. Da diese Naturstoffe in der Regel bei niedrigen Temperaturen verspröden, boten sich vielmehr die Wintermonate an, um sie zu pulverisieren. Herkunft, Seltenheit, Farbe und Stabilität entschied dann oft über den Preis. Wässrige (z. B. im Sauren mit Essig, im Basischen mit Pottasche) oder alkoholische (rektifizierter Brandwein) Auszüge stellten eine weitere Möglichkeit dar, die oft verunreinigten Gummen und Harze zu läutern. Auch dies wurde vermutlich dem erfahrenen Apotheker überlassen, der Gefäße, Mörser und einschlägiges Wissen besaß.

Meine Aufmerksamkeit zogen auch Hinweise auf die Verpackung auf sich: Ist dies für den pharmazeutischen Bereich mit Zinndöschen oder Keramikgefäßen klar über die Taxa vasorum zu erschließen – jedes Gefäß hatte seinen Preis –, ist diese Frage für Waren im Handkauf noch nicht klar zu beantworten. Brachte man seine Dose oder Flasche für Harze und Öle mit? Kaufte der Kunde in gedrehte Papiertütchen oder zusammengefaltetes Papier eingeschlagene Farbpulver, wie dies das bereits gezeigte Gemälde von Job de Berckheyde nahelegt?

Das Sortiment an Colores ist scharf umrissen – ablesbar aus Kapiteln, die nur Farben listen. Oft verstecken sich die Farben allerdings zwischen Metallen und Bergarten. Waren z. B. die Grüntöne durch Berggrün, Saftgrün und Grünspan abgedeckt, gab es keinen Grund, weitere Grüntöne aus der Natur zu erschließen. Dies ändert sich erst mit dem Aufkommen von Berliner Blau. Um allerdings harte Mineralien wie den Lapis Lazuli (Lasur- oder Bergblau) oder den Blutstein (Hämatit) in farbige Pulver überzuführen, bedurfte es – wie schon bei den Gummen und Harzen – der Werkzeuge (Mörser, Pistille etc.) des Apothekers.

Das Wissen des Pharmazeuten und Alchemisten (der frühen Chemie) um eine thermische Umwandlung (von Metall in gebranntes Metall, von Elfenbein in weißes oder schwarzes Spodium etc.) erweiterte die angebotene Produktpalette deutlich. Die damit verbundene Brandgefahr in eng bebauten mittelalterlichen Stadtstrukturen war dem Apotheker jederzeit bewusst: Brandschutz war ebenso wie beim Schmied ein Thema. Aber auch die erwähnten Giftstoffe erforderten die Umsicht des Apothekers und seines Gesindes. Diese wurden in der Regel mit dafür ausgewiesenen Werkzeugen verarbeitet und in sorgsam beschrifteten Gefäßen in einer separaten Kammer oder einem Schrank verwahrt.

Inventarliste der Braunschweiger Rats-Apotheke 1658 (aus [1])

Vor dem Hintergrund zusätzlicher Inventare, die wir derzeit auswerten (z. B. aus Braunschweig [1] oder Lüneburg), erscheint die Bedeutung der Taxen anfänglich überschätzt. Diese spiegeln nur eine Warenpalette wieder, die jedoch nicht zwingend bevorratet werden musste. Weit aussagekräftiger erwiesen sich deshalb Inventare, die die bevorrateten Mengen und manchmal gar den Wert der Waren auflisten. Der sich hieraus ergebende Gesamtwert der Apotheke hatte im Falle von Kolberg 1589 im Hinblick auf den anstehenden Verkaufes Bedeutung. Ein Verkauf wird eine (für uns glückliche) Ausnahme gewesen sein, meistens wollte man seitens des Betreibers der Apotheke (z. B. der Rat der Stadt) einfach die Lagerbestände wissen. Jedes Inventar wirft damit ein Schlaglicht auf das im Moment der Inventur eingelagerte Warensortiment. Ähnliches gilt für das Warenangebot eines Materialisten oder Drogisten (Nürnberg 1772), ein weiterer Augenöffner.

Bevor wir uns einzelnen Listen zuwenden, möge das grandiose Titelkupfer der Taxe Kopenhagen 1672 den Raum aufspannen, in dem wir uns bewegen. Der von Cornelius Nicolaus Schur(t)z, einem Nürnberger, geschaffene Stich zeigt neben den Begründern der aus damaliger Sicht modernen Medizin und Naturheilkunde, Hippokrates und Paracelsus, vier Vignetten, die für die Welt des Apothekers stehen.

Kopenhagen 1672 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen)

Die meisten Wirkstoffe kamen aus der Natur, in der Sonne und Regen eine reiche Fauna und Flora schaffen. Gleich ob regional oder aus dem „Außland“, bot die Natur eine breite Palette an Blättern, Blüten, Wurzeln, Rinden, Hölzern, Gummen, Harze etc., die die Grundlage für viele pharmazeutischen Rezepturen bildeten und die uns heute – die wir uns industriell hergestellter Medikamente bedienen – fremd geworden sind.

Kopenhagen 1672 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen)

Schon damals sorgten Fuhrleute und Kaufleute in einem global umspannenden Handelsnetz für eine Versorgung der Handelsplätze, von denen der Materialist, Droguist oder Apotheker seine Waren bezog. Ob zu Pferd, in Kiepen auf dem Rücken, ob im Schubkarren oder über unwegsame Pässe, ob aus der Natur, aus dem Berg oder den Brennöfen von Farbbrennern, es war ein breiter Warenstrom, der nicht nur der Gesundheit der Bevölkerung diente, sondern auch die Bedürfnisse des täglichen Lebens abdeckte.

Kopenhagen 1672 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen)

Schur(t)zens Blick in das pharmazeutisch-chemische Laboratorium des Apothekers illustriert seine Rolle: Ob beim Brennen von Feststoffen, ob bei der Destillation flüchtiger Bestandteile, ob bei der Herstellung von Essenzen oder beim Mörsern von Wirkstoffen, beim Drehen von Pillen oder der Herstellung von Salben, folgte der Apotheker den Rezepturen aus Pharmacopöen oder Dispensatorien.

Kopenhagen 1672 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen)

Gleich, in welche Stadt man kam, fanden sich die Verkaufsräume der Apotheke in zentraler Lage: Apotheken waren für das Überleben der Städte ebenso wichtig wie Wallanlagen oder Brunnen. In des Apothekers Verantwortung lag die Frische der Waren, er bürgte für die Sauberkeit der Apotheke und die Zuverlässigkeit des Personals, er verantwortete einen korrekten Umgang mit den zahlreichen Aufbewahrungsgefäßen – seien es irdene Standgefäße, hölzerne Schubladen, Lederbeutel oder Pappschachteln – und eine geordnete, dem Rezept des Arztes folgende Zubereitung der Arzneien. In Zeiten der Pest lebte er von seinen Zubereitungen, Tropfen, Salben, Pillen. In Zeiten ohne Pest und Cholera lebte er auch von Tropfen, Salben, Pillen, doch zugleich auch von Zuckerwaren, Schnäpsen und ... eben Farben!

Schmuggeln wir uns also in den Verkaufsraum, doch lassen all den Siechen Vortritt. Werfen einen neugierigen Blick in die dahinterliegenden Räume, doch entziehen uns dem prüfenden Blick des Apothekers. Treten an die Seite, doch suchen auf den Schubladen und den Standgefäßen nach Beschriftungen, die uns zu dem führen, was uns interessiert – zu Zwischgold, Gummi Arabicum, zu Bleigelb, Saftgrün, Mohnöl.

[1] Dietrich Arends und Wolfgang Schneider, Braunschweiger Apothekenregister 1506 - 1673, Braunschweig 1960.

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