An den Rand notiert: 1725 bis 1749

Andreas Burmester

Die mit einem prächtigen Titelkupfer ausgestattete Taxe Zerbst 1726 bietet ein komplexes Betätigungsfeld und reiche Ausbeute. Für den Sitz des Fürstentums Anhalt-Zerbst verfasst, sucht die Taxe das rund 400 km weiter nordwestlich gelegene Jever mit abzubilden, das seit 1667 dem anhaltinischen Einflussgebiet zuzurechnen war.

Frontispiz von Zerbst 1726 (Bayerische Staatsbibliothek München)

Die angegebenen Gewicht Pfund, Loth und Quint sind in beiden Städten die gängigen Apothekergewichte. Doch während die Preise in Zerbst in Thaler, Groschen und Pfennig angegeben sind, sind die Preise in Jever in Schaf und Witt eingepreist. Eine in das Vorwort eingefügte Umrechnungstabelle von Schaf und Witt in Pfennig liefert die Umrechnung.

Umrechnung unterschiedlicher Währungen für Jever und Zerbst (Bayerische Staatsbibliothek München)

In der Datenbank sind deshalb beide Städte mit ihrem unterschiedlichen Preisschema und vor allem Angebot abgebildet: Offenkundig führte die Apotheke in Jever weit weniger Waren, vor allem sind die für unser Thema relevanten weit seltener. Insgesamt hinterlässt Zerbst 1726 den Eindruck, dass in der kleinen Residenzstadt großer Wert auf Vollständigkeit der Benennung des Warensortimentes sowie möglichst vieler Synonyme zu einzelnen Produkten gelegt wurde. Im Gegensatz zu stark schematisierten Taxen aus Großstädten wie z. B. Frankfurt, die sich auf das pharmazeutisch Notwendige beschränken, bietet Zerbst 1726 somit eine Fülle von Details, die unsere Warenauswahl besser zu verstehen hilft. Die in der vorgeschalteten Apothekerordnung geforderte Orientierung am Dispensatorium Augustanum war Standard für alle deutschen Apotheken dieser Zeit: Hiermit wurden auch die dort genannten lateinischen Bezeichnungen für pharmazeutisch relevante Artikel maßgeblich. Andere wie die Coloris ferrei, die Eisenfarbe, oder das Coeruleum montanum, das Bergblau, lagen außerhalb dieses Kanons und bieten der Technischen Kunstgeschichte Stoff für ausgiebige Diskussionen.

Tarif aus Zittau 1726 (Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden)

Auch Zittau 1726 bietet Stoff, erneut über die Währungsproblematik nachzudenken. Zwei angehängte Tariffa erlauben es, die Umrechnung von Reichsthalern in Groschen (24:1) und von Groschen in Pfennige (12:1) abzusichern. Auch wenn die Taxe ansonsten keine Ungewöhnlichkeiten aufweist, gilt im Hinblick auf die Währungsproblematik ganz allgemein: Nur selten ist die Umrechnung gesichert, jedoch zumeist plausibel. Zu dieser Plausibilitätsprüfung gehört ein Blick auf die Preise der Balsame – zumeist die teuersten Waren. Hier ist ein Balsam mit 18 Groschen das Quint gelistet. 3, 6, 8, 10 oder 12 Groschen sind an anderer Stelle auch zu finden. Eine der beiden Tarife endet auch in der letzten Zeile mit 23 Gulden. 24 Gulden wären dann ein Reichsthaler, der Beginn des zweiten Tarifs. Das Ganze wäre schlüssig, … wenn nicht in der zweiten Tabelle die 28 auftauchen würden. Wir nehmen zu unseren Gunsten an, ein Druckfehler! An dem Ansatz, den Reichsthaler zu 24 Groschen anzusetzen, sollte deshalb nicht gerüttelt werden. Pragmatisch gedacht – und das gilt für viele Taxen – ist die größte Währung, der Reichsthaler, für uns in der Regel irrelevant. Das gilt auch hier: Keines der Produkte aus unserem Warenkanon ist so wertvoll, dass eine Ausweisung in Reichsthalern notwendig wäre.

Der Taxe Regensburg 1727 fehlen gängige Gelbpigmente wie Bleigelb oder Ocker, aber auch Smalte oder Bergblau. Es ist deshalb anzunehmen, dass viele dieser Farbmittel direkt bei einem der Materialisten in Regensburg erworben werden konnten. Bemerkenswert ist die Liste von Pulveres simplices, die viele der von uns erfassten Waren bietet. Die Apotheke führt jedoch auch Waren des täglichen Bedarfs wie Kaffee oder Schnupftabak, eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle.

Die Taxe Goslar 1731 ist wiederum selbst für einen mit der Thematik Vertrauten von auffallender Ausführlichkeit. Sie listet eine Unzahl von Simplicia und Composita, weit mehr als in der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Taxe, wie die Verfasser hervorheben. Dies allerdings geschehe nicht in der Absicht, dass die Apotheker all diese Waren bevorraten sollte, sondern weil „von benachtbarten Orten gar leichte ein oder anders könnte gefordert, oder von den Medicis verschrieben werde“ und man in diesem Fall die Ware schon eingepreist hätte. Das Kapitel zu „Metallen, Berg=Arten und Farbe=Waaren“ ist in seiner Reichhaltigkeit einer Berg=Stadt würdig. Neben zwei Seiten Corrigenda – was die sorgfältige (Nach)Bearbeitung der Druckfahnen belegt – weist die Taxe auffallend viele der uns interessierenden Waren als im Preis fallend oder steigend aus. Möglichenfalls will sich der Apotheker hier mit einem breiten Sortiment nicht-pharmazeutischer Waren die Freiheit ausbedingen, die Preise freier zu gestalten.

Auf der Suche nach der ältesten Apotheke in Goslar stößt man auf die Hirsch-Apotheke, die seit 1780 als „Kräuter- und Drogenhandlung“ existierte und erst 1808 Apotheke wurde. [1] Aus einer Droguerie oder einem Materialisten wurde hier Ende des 18. Jhs. also eine Apotheke! Die Grundstruktur des Geschäftes eines Materialisten oder einer Apotheke, der Verkaufsraum, die umfangreichen Lager für trockene und flüssige Waren und die täglichen Abläufe waren ja nur einen kleinen Schritt voneinander entfernt. Es war also nicht die Hirsch-Apotheke, für die diese Taxe verfasst wurde: Vermutlich ist es eher die Alte Apotheke, die in der Nähe der Burg Vienenburg liegt. Auch wenn die Internetseite dieser heute noch existierenden Apotheke sich jeglichen historischen Bezugs enthält, könnte der Name hier die Lösung sein.

Über meinem Interesse für die Abläufe in alten Apotheken gerät leicht aus den Augen, dass es im Kern des „Taxenprojektes“ um eine Versorgung von Künstlern, Kunsthandwerkern, Fassmalern, Zeichnern usw. und ihren Werkstätten mit Farbwaaren (im weitesten Sinne) geht. Der Digitale Malkasten spiegelt namentlich benennbare, manchmal auch vielleicht nur vermutete Anknüpfungspunkte zwischen einer Apotheke und einer Werkstatt. Zugegeben, an mancher Stelle bleibt das Bild vage: Dies ist ein aus der Bearbeitung anderer kunsttechnologischer Quellen bekanntes Phänomen, liegen doch am Anfang nur einzelne Mosaiksteine vor, das gesamte Bild hat sich noch nicht geschlossen. Für Würzburg muss dies jedoch als gelungen gelten! Die Taxe Würzburg 1735, die für Jahre Gültigkeit in den zumindest zwei Apotheken Würzburgs hatte, konnte mit der Tätigkeit Tiepolos und seiner Werkstatt in Würzburg um 1750 verknüpft werden. [2] Der Fund von Quittungen über den Verkauf von Farben an Tiepolo und seine Werkstatt lenkte das Interesse dabei allerdings weg von den Apotheken, für die die Taxe Würzburg 1735 bestimmt war, hin zu dem Materialisten Carl Anton Venino, der sich in Würzburg angesiedelt hatte und zum Bezugspunkt für Farbwaren wird. [3]

Der Würzburger Rombachhof von Johann Balthasar Neumann, seit 1740 Sitz des Materialisten Venino und Nachfahren, zerstört 1945 (Geschichtswerkstatt Würzburg, aus [2])

Heute sind wir sicher, dass die Würzburger Apotheken beim Bezug von Colores wahrscheinlich keine große Rolle mehr spielten, ihr Angebot war stark eingeschränkt: So fehlen in Würzburg 1735 beispielsweise Berlinerblau und Neapelgelb, die in demselben Zeitraum schon von Materialisten angeboten wurden. Der reiche archivalische Bestand zu den Veninos erlaubte es auch, die Transportvorgänge rund um die Lieferungen an diesen bedeutenden und wirtschaftlich außerordentlich erfolgreichen Materialisten zu untersuchen. Venino agierte europaweit in einem Netzwerk vergleichbare Kaufleute. Er versorgte auch mit Sicherheit die örtlichen Apotheken, auch wenn in der Taxe erwähnt wird, dass dieser seine Waren von der nahen Frankfurter Messe bezöge. Von dem von Johann Balthasar Neumann erbauten Geschäftshaus der Veninos hat sich eine etwas spätere, jedoch detaillierte Grundrisszeichnung erhalten, die uns einen Einblick in die logistischen Abläufe bei einem Materialisten schenkt.

Johann Georg Bernhard Fischer - vermutlich, Grundriss des Rombachhofes, Tuschezeichnung um 1750 (Mainfränkisches Museum Würzburg, aus [2])

Doch was war mit den zwei Apotheken Würzburgs? Die bis heute zu besichtigende Apotheke im Julius-Hospital, deren barocke Ausstattung von 1765 mit ihren zahllosen Schubladen und Standgefäßen ein eindrucksvolles Bild von der Fülle des Angebotes gibt, wird im Farbwarenhandel keine Rolle gespielt haben, da ihr Sortiment auf die Bedürfnisse des Hospitals abgestellt war. Diese Aussage gilt vermutlich für alle Hospital- oder Klosterapotheken dieser Zeit.

Die Würzburger Julius-Apotheke, um 1765 (Postkarte, unbekannter Photograph)

Bleibt also nur die „Apotheke zum Hirschen“, die 1609 mit einem Privileg versehen wurde. Sie, aber weit mehr Veninos Geschäft werden all das bereitgehalten haben, was an Farbwaren benötigt wurde.

Die rund 15 Jahre nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) – in dem um die Vorherrschaft im Ostseeraum gerungen wurde – veröffentlichte Sammeltaxe Rostock 1737 führt rund 1.900 Waren nur unter ihren lateinischen Bezeichnungen. Im Vorwort der Taxe werden zwei Apotheken erwähnt: Das Privileg für die seit 1635 vom Rat der Stadt immer wieder verpachtete Raths-Apotheke bestand bis 1698, eine Neben-Apotheke kam jetzt hinzu. Eine noch nicht nachgewiesene Rostocker Taxe von 1659 führt rund 2.100 Waren auf. Für 1788 liegt dann eine weitere, allerdings handschriftliche Taxe vor: Auf eine gedruckte Fassung muss also nicht unbedingt eine gedruckte folgen - eine für die Genealogie der Taxen wichtige Erkenntnis. [4]

Rostock 1737 erschien mitten im Niedergang: Rostock war bereits durch den endgültigen Zerfall der Hanse, die kriegerischen Auseinandersetzungen des 17. Jhs. und vor allem den großen Stadtbrand von 1677 gezeichnet. Die Landwege waren unsicher, einzig der Zugang zur Ostsee war offen. Geschrumpft auf ein Drittel der Einwohner und zunehmend ihre politische Autarkie verlierend, litt sie auch 1737 noch unter den Störungen der Handelswege. Zu Beginn der 1730er Jahre machte sich der Rat auf die Suche nach einem neuen Pächter für ihre Apotheke. Dass dabei die Wahl auf Michael Geismar fiel, der schon ein Brauhaus in Rostock besaß, war unglücklich, da Geismar kein Apotheker war. Sein Versuch, vor dem Stadtphysicus sein Apotheker-Examen abzulegen, scheiterte: "Er sey unvermögend, hiesiger Raths Apotheke vorzustehen falß man nicht ihn selbst zum Bettler machen und die Apotheke in äußersten Ruin setzen wolle." Eine Prüfungswiederholung führte zum Erfolg, doch im Alltag stellte sich rasch heraus, dass Geismar seine Apotheke nicht nur schlecht verwaltete, sondern auch trank, falsche Rezepturen anfertigte und eingekaufte Waren schuldig blieb. Diese Episode verdeutlich, dass das Bild des gebildeten Apothekers möglichenfalls mancherorts korrekturbedürftig ist. 1744 wird Geismar gekündigt und der Provisor Matthias Friedrich Bracht, seit 46 Jahren in der erwähnten Neben-Apotheke tätig, übernahm. Derartige Pächterwechsel lösten wiederum umfangreiche Inventuren aus, ein wichtiger Fingerzeig! So finden sich in einem Inventar von 1634 auch Farben, u. a. Bleigelb, Saftgrün und Umbra. [4]

Der Rostocker Stadtbrand 1677, Kupferstich 1678 nach der Vorlage von Matthäus Merian 1641

Die Literatur berichtet zu Rostock von rund zehn Inventaren, die einer näheren Untersuchung Wert wären. Rostock muss zudem – wenn man die Taxe einzuordnen sucht – neben einem Apotheker auch einen Materialisten innerhalb ihrer Stadtmauern gehabt haben.

Die Taxe Wien 1744 brachte mit dem Eintrag „Lapid. Malachit. s. armen / Schreck=Stein“ Bewegung in eine alte Thematik: Pigmentanalysen weisen immer wieder Malachit als Grünpigment nach, das als solches, z. B. als Malachitpulver aber in kaum einer der Taxen zu finden ist. In Wien 1744 wird jetzt plötzlich der Malachitstein mit dem Armenierstein und der wiederum mit dem Schreck=Stein in Verbindung gebracht! Zedler liefert uns in seinem Waaren-Lexicon (um 1790) den Schlüssel: Schreckstein sei Malachit, ein Stein von „halbdurchsichtiger […] grüner Farbe“. Als deutsche Vorkommen werden Sachsen, Ungarn und Tirol genannt. Aus Schreckstein geschnitzte kleine Herzen dienten dazu, „Frauenzimmer“ und Kinder vor Erschrecken zu bewahren.

Armenierstein oder Azuritknollen in Sandstein (Wallerfangen)?

Der Armenierstein dagegen sei ein „grünblauer oder lichtblauer Stein“, der von Sandkörnchen durchsetzt sei. Ursprünglich aus Armenien, käme er jetzt aus vielen Gegenden Deutschlands, u. a. wieder aus den Silber- und Kupferbergwerken Tirols. Aus Armenierstein würde „künstliches Bergblau“ gewonnen. Ist hiermit unser Coeruleum factitium gemeint, das in den Taxen immer wieder zu finden ist? Malachit selber sei ein „grüner, dichter, undurchsichtiger Edelstein“, der auch als Heilstein diente. Bereinigt um die sandigen Einsprengsel, könnte der Armenierstein also als eine Vorstufe für ein künstliches Blaupigment gesehen werden. Erhitzt man dieses, wird es grün. Dem Kunden in der Apotheke wird das blaue Pulver als Bergblau oder Lazur angeboten worden sein War es grün, hieß es vermutlich Berggrün. Letzteres wird kaum von den zahlreichen Qualitäten des z. B. aus ungarischen Bergwerken gewonnenen Berggrüns zu unterscheiden gewesen sein wird, die dort angeboten wurden. Neben das künstliche Bergblau treten dann noch basische Kupfercarbonate (Azurit u. a.) sowie vor allem die unterschiedlichen Reinigungsstufen des natürlichen Ultramarins. Beide werden als hochwertiges Lasurblau oder Bergblau gelistet.  

Doch was tun, wenn Kugellack, Bleigelb und Berggrün in Nürnberg 1745 fehlen? Wenn sich die Apotheke mit dem Materialisten arrangierte, sie sich den Markt aufteilten oder gar die Apotheke ihre, uns zwischenzeitlich so vertraute Rolle verlor? Wenn sich das Bild festigt, dass große Städte wie Nürnberg jetzt andere Warenströme kannte? Wenn der Apotheker seinen Lehrling bei der Herstellung pharmazeutischer Rezepturen hinzuzog, sein Wissen je nach Capacität des Lehrlings weitergab, keine Geheimwissenschaft betrieb, ihn über die Jahre begleitete und beobachtete, seine Lateinkenntnisse förderte, ihn von "liederlichen Gesellschafften und Weibsbildern" fernhielt, ihn dann aber doch an den Materialisten verlor? Wohin wenden wir uns? Diese Frage mündet in das Inventar Nürnberg 1772, auf das wir noch zu sprechen kommen. Doch machen wir noch einmal bei Nürnberg 1745 Halt: Erstmalig ist die Rede von „Weibsbildern und andern[,] die die Profession nicht verstehen“, denen die Reinhaltung der Räumlichkeiten der Apotheken, ihrer Gefäße und der Instrumente obliegt. Offenkundig durften Frauen jetzt auch den Handkauf „gemeiner und unschädlicher“ Simplicia besorgen, die Anfertigung von Capsuln und Säcklein ebenfalls. Beim Handkauf zählte in allen Apotheken das Kramer-Pfund. Kurz: Die Papiertüte mit einem Pfund Venedisch Bleyweiß mag also so von einer Frau über die Theke geschoben worden sein. Der Einkauf all dieser Farbwaren erfolgte vom Materialisten, der zwischen Apotheke und Messe geschaltet war. Aber war dem Materialisten auch ein Direktverkauf möglich? Zwar wurde „ordentlichen Materialisten“ auch der Verkauf von einfachen Stücken (sprich Simplicia) amtlicherseits zugestanden, doch dabei entfaltete eine Restriction ihre Kraft: So sollte „der Materialist nicht Kreutzer, Groschen, noch Loth weiß als ein Krämer [lothweise wie ein Krämer], sondern als ein Materialist wenigstens viertel Pfund weiß die Materialien hingeben dörffe.“ Damit ist der Verkauf von kleinen Mengen unter einem Viertel Pfund – z. B. im Loth – oder zu niedrigen Beträgen – also für ein, zwei Kreutzer oder Groschen – ausgeschlossen. Hier liegt die Grenze!

Eine detaillierte Medicinal=Ordnung für das Hochstifft Münster aus dem Jahr 1749 regelt das Tun und Lassen der Ärzte, Apotheker, Laboranten und Materialisten für ein weites, zerstreutes Einzugsgebiet [5]. So verwalten Provisoren weitere Apotheken an „entlegenen Orten“ und auf dem „platten Land“, in „Vechte, Bocholt [6], Meppen [7], Vreden“. Detaillierte Anweisungen, was in welchem Raum der Apotheke hergestellt werden darf, welche Gefäße aus Zinn oder Steingut dabei verwendet werden sollten, wie mit Giftstoffen umzugehen war, wie die Verpackungsformen waren – ob Schachteln, Papier oder Glas – und welche „Hauß= oder Nebenarbeiten“ von den Gesellen durchzuführen waren, sind uns zwischenzeitlich vertraut , doch machen sie in ihrer Ausführlichkeit die Münster 1744 zu einem außergewöhnlichen Dokument.

Es lohnt also, sich in der „Apotheken, [dem] Kräuter=Boden, [der] Material=Kammer und [dem] laboratorio“ umzuschauen. Was sich in dem Verkaufsraum tut, ist uns schon hinlänglich bekannt. Doch wie sah es in der Materialkammer aus? Sie war möglichenfalls nicht so überfüllt wie anderswo, denn es war dem Münsteraner Apotheker überlassen, das Warenangebot deutlich zu reduzieren. Auf was er verzichten durfte, ist ausgewiesen. Trotz dieser Regelung galt, dass die „Medicinalien[, die] in allen Apothecken vorräthig seyn sollen“, eine „im gantzen Land […] gleiche[!] Apothecke“ sicherstellen. Diese Formulierung, die in den ersten paar Zeilen des Vorwortes fällt, zielt auf einen zentralen Punkt: Ebenso wie die Preise vergleichbar sein sollten, mussten die bevorrateten Waren von gleichbleibender Qualität sein, um in den vor Ort angefertigten Rezepturen vergleichbare medizinische Wirkung zu entfalten. Hierbei hatten sich der Apotheker, der Provisor und die Gesellen peinlich an die in den Ordnungen benannten Dispensatorien oder Pharmakopöen zu halten, die Aufsicht über das Geschehen – wir würden heute sagen, die Qualitätskontrolle – lag beim örtlichen Medicus. Denn die Verwendung verfälschter Rohstoffe, missverständlicher Rezepturen oder geänderter Mengenverhältnisse konnte tödlich enden. Nur die „gleiche Apotheke" konnte dies verhindern!

Um dies zu sichern, bindet Münster 1749 die örtlichen Materialisten ein. Aus der anderorts üblichen Abgrenzung und Konkurrenz wird hier ein Miteinander. Die Materialisten, nicht die „ordonaire Kauffmanschafft“, garantierten dabei einen raschen Nachschub in den Apotheken. Da Materialisten keine Apotheker waren, „die allergenaueste Wissenschafft“ also nicht haben konnten, visitierte der Medicus auch die Materialisten. Diese waren angehalten, „medicinal=Waren nebst Zucker, Honig, Baumöhl [Olivenöl], Gewürz etc. von anderen Kauffmanns=Waaren abgesondert“ nach alphabetischer Ordnung zu lagern. Die Hölzer zu den Hölzern, die Mineralia zu den Mineralia ...

Münster 1749 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen)

Münster 1749 trifft in einem Punkt eine ungewöhnliche Vorgabe: Will ein Kunde mehr als eine Unze (zwei Loth) Mennige – der in der Taxe angegebene Preis bezieht sich auf eine Unze –, so gilt nicht der Preis der Taxe, sondern er kann mit dem Apotheker „gleich einem Materialisten“ ausgehandelt (accordiren) werden. Die Grenze liegt bei Copaivabalsam bei einer Drachme (Quint) oder bei destillierten Ölen wie Terpentin- oder Spiköl bei einem Loth. Diese Regelung verweist den Hand(ver)kauf also nicht an den Materialisten wie in anderen Städten, sondern erlaubt dem Apotheker, wie ein Materialist zu handeln. Vermutlich gab es in Münster Materialisten, so dass der Apotheker auch nach der Taxe nicht gezwungen war, z. B. Ocker zu führen. Hier konnte er den Kunden an den Materialisten verweisen. In Vechte, einem weit kleineren Ort mit vermutlich einer Apotheke, mag dies anders gewesen sein. Es gab keinen Materialisten und der Apotheker traf die Entscheidung, ein Fass Ocker in der Material=Kammer zu stellen. Da ein Loth Ocker nicht viel ist und in der Apotheke in Vechte auch Farben nachgefragt wurden, wird dort der Preis frei ausgehandelt worden sein. Dazu musste der Provisor in Vechte jedoch die Verkaufspreise beim Materialisten ebenso kennen wie die Preise im Einkauf für die Apotheke. Als preisliche Orientierung dienten weiterhin „Ostern und Michaelis, die neueste Franckfurter und Holländische authentique Preiß=Couranten“ der dortigen Messen. Dieses Bündel an Regelungen zeugt nicht nur von einer Zusammenarbeit mit dem Materialisten: Sie hat sich mit Sicherheit auf reduzierte Warenbestände in der Apotheke und damit geringerem gebundenem Kapital ausgewirkt.

Doch werfen wir noch einen Blick in das Laboratorio: Münster 1749 beschreibt in seiner Taxa laborum und im ersten Teil der angehängten Dispensatorio praktische Arbeiten und Gerätschaften. Auch wenn der komplexe Text noch seiner Auswertung harrt, erfahren wir, dass für die Herstellung eines feinen Pulvers 4 Pfennige fällig waren, die Schachtel und das Papier inbegriffen. Erfolgte das Zerreiben unter Zusatz von etwas alcool auf einem „Reib=Stein [zu] gantz zart geriebene[m] Pulver, wie Mahler Farb [!]“, so stieg der Preis auf 6 Pfennige. Die erwähnte Schachtel konnte mit „türckisch Papier gefuttert“ oder gar mit Goldfolie ausgeschlagen sein. Die in anderen Taxen häufig unklare Unterscheidung von Gummen und Harzen wird hier über die Löslichkeit erklärt: Gummen seien oft „mehr oder weniger flüßig“ und lösten sich (weitgehend) in Wasser, die Resinae, also die Harze, in Alkohol und Ölen. Ganz im Duktus des 18. Jhs. sind sogar Rezepte eingestreut: Zwei Teile Leim, pulverisierter Ziegelstein, gestoßenes Glas, in Wasser angeteigt, getrocknet, bestrichen mit Goldglätte oder Mennige, am Schluss gebrannt, gebe einen „glasurten Leim“ – „all dieses dienet nur zur curiosität.“ Und eine letzter Glücksfall: Aus den Gebührenordnungen für die Ärzte wie die Apotheker lassen sich präzise Aussagen zur Umrechnung von Orts- und Reichsthalern oder Gulden in Schillinge und Pfennige ableiten. Im Hinblick auf unseren Warenkanon und sein Preisniveau spielen allerdings erstere keine Rolle: Alles ist in Schillingen und Pfennigen eingepreist.

[1] Zur Geschichte der sehenswerten Hirsch-Apotheke siehe https://www.wiki.de-de.nina.az/Hirsch-Apotheke_(Goslar).html (letztmalig aufgerufen am 29.11.2022)

[2] Andreas Burmester and Stefanie Correll, 72 Florin for colours, white and glue: The Tiepolos, the Veninos and Würzburg, in: Helen Evans und Kimberley Muir (Hrsg.), Studying 18th Century Paintings and Works of Art on Paper, Archetype Publications London 2015, hier S. 58-69 (download als PDF unter Burmester_Tiepolo_2015 und gebunden von Archetype London).

[3] Stefanie Correll, Farbwarenhandel um 1800 – die Würzburger Kaufleute Venino, Dissertation Technische Universität München München 2012, 261 S.

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Ratsapotheke_Rostock, letztmalig aufgerufen am 4.1.2022 und Harald Schümann: Von Apothecarii, Physici und Clystierweibern. Apotheker und Apotheken der Stadt Rostock in acht Jahrhunderten. Ein pharmaziehistorischer Abriss, Rostock 2003.

[5] R. Schmitz und U. Vierkotten, Zur Geschichte des älteren deutschen Apothekenwesens. XII. Die Entstehung der Apotheken in Münster/W., in: Pharm. Ztg. 117 (Heft 30) (1972), S. 1111-1118.

[6] Zur Apothekengeschichte in Bocholt siehe https://zusammen-in-bocholt.de/wp-content/uploads/2020/04/UnserBocholt_Heft01-2016_Wiedemann.pdf (letztmalig aufgerufen am 11.7.2023)

[7] Die heutige, seit 300 Jahren in Familienbesitz befindliche Stadt-Apotheke ist der Nachfolger der ältesten Apotheke in Meppen.

Dieser Beitrag ist zu zitieren als Andreas Burmester: An den Rand notiert. Anmerkungen zum Münchner Taxenprojekt (2022), www.taxenprojekt.de

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