An den Rand notiert: 1600 bis 1624
Andreas Burmester
Die Taxe Helmstedt 1600 macht deutlich, dass die Stadt beabsichtigte, beide existierenden Apotheken ein und demselben Apotheker anzuvertrauen. Herzog Julius von Braunschweig lag bereits seit längerem im Streit mit dem Rat der Stadt Helmstedt: Die Helmstedter fühlten sich von dem in der Universitäts-Apotheke der Julius-Universität eingesetzten Wolfenbütteler Hofapotheker Ludwig Rauscher übervorteilt. Vermutlich um ein einheitliches Preisgefüge zu erreichen, erließ der Rat also im Jahr 1600 eine (neue) Taxe, die für die Universitäts-Apotheke und die Rahts Apotheke Gültigkeit bekam [1].
Ein Passus in der vorgestellten Ordnung beschreibt, dass die „herbae, folia, radices und dergleichen dinge“ sorgfältig „außgelesen und gereinigt/ auch recht gedorret" werden sollen, auf "das[s] sie nicht schimmlich werden“. „Ohne stengel und andere mängel“ sollen sie in sauberen „säcklein/ kästlein und büchsen“ aufbewahrt und einmal monatlich gereinigt werden. Darüber solle ein „ordentlich inventarium, quo anno & quo mense“ geführt werden, das bei Bedarf vorzulegen sei. Dies sollte als weiterer Hinweis darauf gewertet werden, dass mit weiteren Inventaren gerechnet werden kann, die den Gesamtbestand und bestenfalls -wert einer Apotheke abbilden.
Der Helmstedter Apotheker durfte süße und von ihm gewürzte Weine abgeben – allerdings nur im von der Universität gestellten Weinmaaß. Unter der Strafandrohung von 30 Thaler stand dagegen die Abgabe von „Reinischen/ Francken/ Frantzösischen und anderer blancken weinsellung [?]“. Die Beteiligung der – im Übrigen 1810 aufgelösten – Universität Academia Julia Carolina mag die in gutem Latein formulierte, fast fehlerfreie und äußerst sorgfältig gesetzte Taxe begründen.
Nicht alle Taxen dieser Zeit folgen der zweispaltigen, zweisprachigen Form. Dies belegt Halberstadt 1607, eine Taxe, die rein lateinisch gehalten ist. Sie listet die pharmazeutischen Zubereitungen (Composita) vor dem Pretium Materialium – also den Simplicia –, was eigentlich der Bestimmung der Apotheke völlig entspricht. Farben sind zum Teil nur auf Deutsch benannt – Indich, Lack in Kugeln, Safftgrün oder Schmaltzblaw – und oft im Pfund – wie Auripigment oder englisches Bleigelb – angeboten. In Anbetracht des ähnlichen Druckbildes, der Dekorelemente und des Aufbaus der Halberstädter Liste könnte man vermuten, dass Arnstadt 1583 als Vorbild diente. Arnstadt liegt rund 120 km nördlich von Halberstadt. Albrecht V von Brandenburg verlieh dem Domkapitel und dem Rat der Stadt Halberstadt 1538 das Recht zum Betrieb einer Apotheke – der Rats-Apotheke –, während die älteste Apotheke Arnstadts unter der Galerie seit 1540 besteht.
Freiburg 1607 erwähnt in der Vorrede drei Apotheken, die es in Freyburg gäbe. Sie gehörten Joann Conrad, Wolfgang Götz und Wendel Schultheyß. Um die Systematik in die Sammeltaxe einzuführen – zugleich werden Seitenzahlen vermerkt – ist der Taxe ein großformatiges Blatt mit einer „Adumbratio Totius Pharmacopoeae“, also eine Skizze oder einem vereinfachten Schema eines ganzen Arzneibuches vorgeschaltet. Nachgestellt findet sich eine, auch in anderen Taxen zu findende Tabelle, die eine Umrechnung der verschiedenen Apothekergewichte ineinander erlaubt. Das Pfund wird hier zu 24 Loth gerechnet, es ist also das Apothekerpfund gemeint. Der in der Taxe festgelegte Preis pro Loth (ca. 15 Gramm) beträgt z. B. für geriben Kreyd 4 Pfennige. Verarbeitet der Apotheke ein Pfund dieser Kreide zu Zahnpasta, würde er in seiner Preisfindung für die Zahnpasta alleine für die Kreide 96 Pfennige ansetzen, seine Arbeitsleistung, ein Gefäß etc. käme hinzu. Gibt er jedoch im Handkauf ein Pfund Kreide an einen Fassmaler ab, der daraus einen Kreidegrund macht, ist er dazu gezwungen, das Pfund zu 32 Loth à 15 Gramm anzusetzen. Am Preis ändert sich nichts: Für dieses Krämerpfund zu ca. 480 Gramm bekommt er auch nur 96 Pfennige. Das Loth Kreide kostet den Fassmaler somit nur 3 Pfennige. Dieser Mengenrabatt ist für kleinere Mengen wie das Loth nicht vorgesehen: Im Handkauf bleibt das Loth ein Loth. Rund 15 Gramm Kreide kosten also im Handkauf dasselbe, wie wenn die Kreide in einer pharmazeutischen Zubereitung eingesetzt wird.
Die Freiburger Apotheken sollen nach der Frankfurter Herbstmesse visitiert werden, da dann die Waren frisch seien.
Die Taxe Osterwick 1609, heute Osterwieck im Harz, wurde im Spätsommer 1608 vom Stadtmedicus Herman Becker fertiggestellt und im Jahr darauf im Druck vorgelegt. Das Vorwort von Becker verweist auf die Mühe und die hohen Kosten, denn die Taxe sein „mit nicht geringer mühe und unkostung löblich verfertigt und auffgerichtet“. Die neue Taxe wurde für die neu errichtete Rats Apotheke verfasst. Wie in vielen Apotheken des 16. und 17. Jhs. unterstand die Osterwieker Apotheke der Hoheit des Rates, wurde durch den Stadtmedicus geleitet und an einen Apotheker verpachtet. Die Taxe Osterwick 1609 orientiert sich in Druckbild und Aufbau möglichenfalls an Halberstadt 1607.
Wie in vielen anderen Orten, durften in Osterwick Giftstoffe nur an Kunden abgegeben werden, die dem Apotheker bekannt waren. Der Apotheker sollte den Verwendungszweck erfragen und die Abgabe schriftlich festhalten. Die Waren wurden entweder „eingesamlet“ oder aus Hamburg und Leipzig „eingekauft“. Verfallene Ware „sol abgeschafft/ und hinweg geworffen/ oder verbrandt werden“. Dem Währungswirrwarr fügt Osterwick 1609 den Halberstadische Mg. (Mariengroschen) und die Straubenpfennige hinzu: Ein Mariengroschen entsprechen 12 Straubenpfennigen.
Die in Cöthen 1609, heute das südlich von Magdeburg gelegene Köthen, verfasste und erlassene Taxe wartet mit einer Besonderheit auf: Sie hat ein reines Colores Kapitel mit ausschließlich deutschsprachigen Bezeichnungen für die Farben. In einem separaten Metalla et Res Subterraneae Kapitel werden wie in der restlichen Taxe ausschließlich lateinische Bezeichnungen verwendet. Eine Übersetzung ins Deutsche fehlt. Dies spricht für eine pharmazeutische Anwendung der dort gelisteten Produkte, sie werden kaum in den Handkauf gelangt sein. Farben wurden im Loth abgegeben, die Palette angebotener Farben ist klein. Der Anlass für die Erstellung war, „das[s] in der Apothecken dieses Orts vielerley Unordnung vorgangen“. Auch auf Visitationen war länger verzichtet worden sei, es herrschte „ungezweiffelt grosse Confusion/ unbilliches ubersetzen/ und vieler Ehrlicher Leute versäumnüß“. Zu den Zuständen hatte offenkundig auch das Ausschenken von Branntwein beigetragen. Insbesondere sei dieser unter „dem schein eines aquae vitae, oder wie das sonsten Nahmen haben mag“ erfolgt. Kurz: Der „Apothecker [sol] im geringsten kein Brandtewein Krämer sein/ oder die Apothecken zu einer Schencken machen.“
1609 führte Matthias Nicolai die damals einzige „Alte Apotheke“ in der Marktstraße in Cöthen. Sie lässt sich bis in das Jahr 1524 zurückverfolgen und bestand bis rund 2010 [2].
Die Taxe Lewenberg 1614 steht in engstem inhaltlichem Zusammenhang mit Liegnitz 1614. Das damalige Löwenberg in Niederschlesien liegt rund 50 km von Liegnitz entfernt. Der kleine Ort hatte offenkundig keine eigene Druckerei, weshalb die Taxe ebenso wie Liegnitz 1614 von Nicolaus Schneider, dem Liegnitzer Drucker gedruckt wurde. Die zeitgleich erlassenen Taxen sind jedoch schon äußerlich unterschiedlich, die aus Liegnitz zudem wesentlich ausführlicher. Die Waren für die Löwenberger Apotheke wurden auch über den Leipziger Ostern- oder Michaelismarkt bezogen.
Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Speyer 1614 gab es vier Apotheken in der Reichsstadt – unter ihnen eine der ältesten Apotheken Deutschlands, die Einhorn-Apotheke [3]. Sie war nur wenige Häuser vom heutigen Standort am Markt untergebracht. Die Taxe regelt detailliert, in welcher Art von Gefäßen die Waren aufbewahrt werden sollten. So wurden z. B. „Kräuter/ Blumen/ Wurtzeln/ Samen/ oder andere species“ in reinen „Büchsen/ Schachteln/ Gläsern und Geschirren“ wohlverschlossen aufbewahrt, so dass die Waren „nicht schimlicht/ rantzig/ noch von Katzen/ Mäussen oder andern Thieren verunreinigt/ verderbt oder beschädigt werden“ konnte. Syrupi, die z. B. mit Essig angesetzt wurden, sollten in „keinem metallischen Geschirr gesotten oder verwahret/ sonder wegen ihrer schärpffen/ in steinern oder verglaßten Büchsen“ verwahrt werden. Destillate waren in gläserne Geschirre zu destillieren. Die Teile des Destillationsapparates sollten dabei verzinnt oder gar ganz aus Zinn sein. Auch sei bei der Nutzung von Kupfergefäßen Säure zu vermeiden.
In der Taxe wird mehrfach auf die Frankfurter Messe Bezug genommen, von der offenkundig ein Großteil der Materialien bezogen wurden. Als größte Konkurrenz wurden auch in Speyer „andere Händler und Würtzkrämer“ empfunden, denen unter Strafandrohung von fünf Gulden verboten war, Materialien, die zur Herstellung von Artzney geeignet seien und die „von rechtswegen den Apotheckern allein zugehörig“, im Handkauf zu vertreiben. Oder anders formuliert: Waren, die keine pharmazeutische Anwendung fanden, durften frei verkauft werden.
Am Rande sei angemerkt, dass die für die Reichstadt Speyer erlassene Apotheker-Ordnung auch soziale Aspekte enthält: In Speyer 1614 sollte der Apotheker die gesamte Familie des Arztes mit Medikamenten kostenlos versorgen. Ebenso sollte der Arzt die Familie des Apothekers – mitsamt seinem Gesinde – behandeln und hierfür keine Rechnung für seine Bemühungen schreiben. Derartige Regelungen galten zumindest in Süddeutschland noch bis in die 1960er Jahre.
Die Taxe Iburg 1616 ist für die "Bischöff: Fürstliche Osnabrüggische Hoff Apothecke zu Iburg" verfasst, die sich seit 1591 im Schloss befand. Kurz vor dem 30jährigen Krieg erlassen, weist die Taxe wie schon Speyer 1614 die Besonderheit auf, dass sie angibt, dass ein „guter Groschen“ den Gegenwert von 9 Pfennigen hat. Dieses unerwartete Umrechnungsverhältnis deutet einmal mehr auf die Schwierigkeit hin, dass die Umrechnung der in der Regel drei Währungen mehr als unsicher ist, von einer Aussage zur Kaufkraft ganz zu schweigen. Selbst Waren des täglichen Lebens, z. B. 1 Pfund Reis für 2 gute Groschen oder 1,5 gute Groschen für 1 Pfund Rosinen helfen nicht wirklich weiter. Es wird an der Größe von Iburg gelegen haben, dass das Warensortiment durchschnittlich ist. So fehlen römischer Vitriol oder das sonst breitere Angebot an roten Farblacken (z. B. Florentiner Lack), einzig der Kugellack ist erwähnt. Auffallend ist das Fehlen von Cerussa citrina. Was hat also dieses Bleigelb ersetzt, da auch gelber Ocker fehlt? Man würde letzteren unter den Terrae suchen, die in Iburg 1616 jedoch in einem Kapitel mit den Metalla, Mineralia, den Salzen und den Farben aufgehen. Und dort fehlt er. Vermutlich war die Apotheke in Schloss Iburg untergebracht, die um 1600 errichtet wurde.
Die ungewohnt strukturierte Taxe Marburg 1617 stellt einen folgenlosen Versuch dar, Apothekentaxen auf Deutsch zu formulieren und die unvermeidlichen lateinischen Bezeichnungen in der zweiten Spalte nachzustellen. Die Überschriften zu den zahlreichen Kapiteln der Sammeltaxe sind durchweg auf Deutsch gehalten, ebenso wie einheimische Produkte pauschal verpreist werden. So heißt es bei den Gummen und Harzen „Die gemeine Gummi/ so in Teutschland eingesammlet werden/ von Pflaumen/ Kirschen/ Thannen und andern Bäumen/ wie auch das Arabische Gummi/ kostet jedes Loth 4. Heller“. Für zwei Pfennige erhält man so rund 15 Gramm Gummi arabicum wie auch Kirschgummi. Dem abgesetzt werden „außländische taxirt“: Sie liegen preislich ausnahmslos über den einheimischen Waren. Eine ähnliche Gliederung findet sich in dem Kapitel zu den Hölzern: Brasil- oder Sandelholz zu den importierten Produkten. Bei den „gebrennten Wassern“ findet sich dann sogar ein Hinweis auf die Herstellungsverfahren: Dies seien Kräuter und Wurzeln „so im Land wachsen/ und in Blasen gebrannt werden“. Hiermit sind kugelförmige Reaktionsgefäße gemeint, was auf die Tätigkeit des Apothekers hinter seiner Offizin hinweist. Wird der Kräutersud oder der wässrige Extrakt „in balneo“, also wohl in einem offenen Topf hergestellt, kostet ein Rösel (Hohlmaß) nur noch die Hälfte. Die Absicht, Taxen auf Deutsch zu verfassen, wird dem Alltagsbetrieb in der Apotheke vermutlich entgegengekommen sein. Die Kunden wie auch die Gesellen des Apothekers werden nur rudimentär des Lateins mächtig gewesen sein. Die alphabetische Auflistung der deutschen Bezeichnungen in den einzelnen Kapiteln, die zudem über einen Index auf der letzten Seite erschlossen werden, wird die Bedienung des Kunden also beträchtlich beschleunigt haben. Doch: Am Ende setzt sich die pharmazeutisch-gebildetere Form im Apothekenalltag durch, Marburg 1617 soll die Ausnahme bleiben. Die Taxe fand in der rund 1485 gegründeten Apotheke „uff dem market“, einer weiteren Einhorn-Apotheke Anwendung [4].
Die vom Erzbischof von Mainz, Erzkanzler und Kurfürst Johann Schweickhard von Cronberg (1553 – 1626) erlassene reformierte Taxe Mainz 1618 muss eine Vorläufertaxe – vermutlich auf um 1605 datiert – gehabt haben.
Einer detaillierten Liste aller in den Mainzer Apotheken gängigen Gewichte und Hohlmaße steht die für unser Projekt ernüchternde Formulierung zu Seite, dass „die Müntzordnung und Werth belangend/ dieweil die gar unbeständig/“ man sich „in den Apotecken“ nach der „Meyntzischen Werth/ und Müntzordnung (wie bißhero) allein halten“ solle. Dieser deutliche Hinweis zeigt, dass die Kaufkraft verschiedener Städte selbst im selben Zeitraum nicht vergleichbar ist. Neben dem Medizinalpfund zu 24 Loth gilt in Mainz wie anderswo das Krämerpfund zu 32 Loth. Das (Hohl)Maß wird zu 4 Medizinalpfunden entsprechend 96 Loth gerechnet. Im Handkauf findet das „Stattmaß“ oder „Bürgermaß“ (Hohlmaß) mit 112 Loth Anwendung. Das Echtmaß (weiteres Hohlmaß) wird zu einem Viertel (entsprechend 28 Loth) dieses Bürgermaßes gerechnet: Nach ihm werden „Oliven/ Cappern/ Baumöl [Olivenöl]/ Essig/ Corinthenwein“ und andere Spirituosen abgegeben. Bedingt durch die geographische Nähe, sind die Mainzer Apotheker angehalten, ihr „requisita“ auf den „Franckfurtischen Jahrmessen [zu] erkauffen“. Nach der Visitation sollen Waren, die als „untüchtig erkannt [wurden] in [den] Rheyn getragen werden“. So sorglos diese Art der Entsorgung uns heute erscheint, ist der Alltag in der Apotheke strikt geregelt. So sollen gemeine Öle, die das ganze Jahr über angeboten werden, „offt von ihrer Trusen/ oder Heffen abgeschieden/ unnd separiert werden.“ Leinöl, das eingenommen wird, soll immer frisch gepresst sein. Das in manchen Listen als oleum recens expressum eingepreiste Leinöl wird also der innerlichen Anwendung vorbehalten gewesen sein. Überhaupt schien die Verderblichkeit mancher Waren – eine Gefahr für den Patienten und zugleich ein merklicher Kapitalverlust für den Apotheker – ein Thema zu sein: Aus diesem Grund sollte die „Officina, oder Apotheke an einem gesunden Ort sein/ nicht in einem Gestanck/ sondern an einem gesäuberten unnd schattächtigten Ort/ damit nicht die beste Kräfften deren Artzeneyen/ von obriger Hitz der Sonnen aufgezogen werden/ oder an einem faulen und feuchten Ort anlauffen/ und zu schanden gehen.“
Das Lüneburger Inventar aus dem Jahr 1618, zu Beginn des 30Jährigen Krieges niedergeschrieben, geleitet uns aus dem „theoretischen Soll“ der Taxe in die „tägliche Wirklichkeit“ einer Apotheke zurück: Nur das, was bevorratet war, ist gelistet. Die sorgsam erstellte Inventarliste Lüneburg 1618 führt dabei für die Simplicia nicht nur die Mengen, sondern auch den Preis per Unze oder Pfund an. Aus dem Zahlenwirrwarr, den drei unterschiedlichen Währungen – Mark (marca) à 192 Pfennigen, Schillinge à 12 Pfennigen und dem nur am Rande auftauchenden Pfennig –, dem Krämerpfund, Unze und Scrupel, aus Buch, Fass und Rieß ließen sich eine Vielzahl von Beobachtungen ziehen, doch nur die wichtigsten seien hier angeführt. Der Gesamtwert des uns interessierenden Warenkanons macht rund 17% des Gesamtwertes aller geführter Waren in Höhe von rund 22.202 Mark aus. Dadurch wird deutlich, dass Farben, Öle oder Terpentin für den Apotheker keine Nebensächlichkeit war. Die Farben sind gar in einer der Kapitelüberschriften als „… et Coloribus“ eigens erwähnt. Größere Mengen von Schiedtgelb, Safftgrün, Braunroth, Eisenfarbe, Rauschgelb oder Berggrün sowie vor allem ihre deutsche Benennung umschreiben eine für die damalige Zeit typische Palette. Keines der pharmazeutisch relevanten Simplicia wie auch Composita tragen dagegen eine zweite, deutsche Bezeichnung! Die 700 Blatt Blattsilber, 16 Buch halb geschlagenes Silber, 8 Büchlein Zwischgold (vermutlich à rund 25 Blatt), 400 Blatt gewöhnliches Blattgold und 850 Blatt Blattgold bester Qualität müssen also eine Verwendung gefunden haben, die weit über das Vergolden von Pillen hinausreicht. In Taxen in der Regel selten auffindbar, jedoch in Lüneburg 1618 prominent vertreten, sind große Mengen gewöhnlichen Papiers, von Regalpapier unterschiedlichen Formates, von blauem Papier und von Maculaturpapier. Schwarze und rote Tinte runden das Bild ab. Auch Kordeln, Danziger Firnis, große Mengen an hellem Bernstein oder getrocknete Hausenblasen müssen Abnehmer gefunden haben. Dabei sei dem Analytiker der Hinweis gegeben, dass eine Verwendung von Storax, Gummigutt oder Safran alleine auf Grund ihres hohen (Relativ)Preises eher unwahrscheinlich erscheint, während die Suche nach den oben genannten, auf Deutsch bezeichneten Farben sowie nach Stärke, Ocker, Umbra oder Caput Mortuum von Erfolg gekrönt sein dürfte. Denn auch in Lüneburg bestimmt der Preis die Palette!
Der 1598 bezogene Neubau der Rats-Apotheke mit seinem prächtigen, farbigem Renaissanceportal und dem bis heute erhaltenen Warenlager im Dachboden muss also die Bedürfnisse der Stadt weit über die vielfältigen Arzneimittel hinaus bedient haben. Der volle Werte dieser Quelle wird jedoch erst deutlich, wenn man sich das dem Inventarium angehängte „Vorzeichnus Aller Einnahm Und Außgabe Von Anno 1618 biß 1619“ ansieht: Beindruckend sind die großen Mengen, die umgeschlagen wurden, beeindruckend der große Kreis von über 23 Geschäftspartnern, von denen der Provisor Jodocus Castner Waren bezog, beeindruckend all die Posten, die die Kosten für die Lieferung aus Hamburg, Leipzig und anderorts nennen. Gemäß meines ersten Eindruckes werden viele Waren deutlich teurer verkauft als eingekauft, manche zum gleichen Preis weitergegeben, wenige sogar teurer eingekauft als verkauft. Schwankten die Preise im Einkauf so stark oder erzwang eine vom Rat erlassene Taxe eine Preisstabilität, an die der Einkauf natürlich nicht gebunden sein konnte? Und was würde eine Suche nach dem Materialisten(?) Heinrich Branemeyer, nach dem Frantzoß di Bock oder Abraham Kram (Cramer) ergeben, die Jodocus Castner auch von der Messe in Frankfurt belieferten? All diese Namen irrlichtern über einem in weiten Teilen unerforschten Gebiet, das die Forschung der nächsten Jahre erobern muss. Hierbei werden Lüneburger Inventarverzeichnisse – die ich derzeit auswerte – eine zentrale Rolle spielen.
An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick in das weit frühere Inventar Lüneburg 1475 zu werfen. In einer Zeit aufgesetzt, in der sich die Apotheke, wie wir sie auch in diesem Projekt kennenlernen, langsam herausbildet, bietet uns dieses Inventar einen Einblick in die damaligen Bezeichnungen, Preise und Mengen. Auffallend ist, dass im Vergleich mit dem Inventar Lüneburg 1618 die bevorrateten Mengen insgesamt sehr viel kleiner sind. Zieht man von den rund 1.300 Pfund der Waren, die in unserem Kanon sind, den aufgenommenen Zucker ab, bleiben nur rund 210 Pfund. Ihr Wert liegt bei knapp 100 Mark. Wohlgemerkt: Es fehlt so gut wie alles, was wir in Lüneburg 1618 auf der Palette finden: Ocker, Kugellack, Bleigelb, Berggrün, Eisenfarbe und und und ... Zweifel, ob die Lüneburger Apotheke im ausgehenden 15. Jahrhundert wesentlich am Handel mit Farben beteiligt war, sind also angebracht. Wo ist der Einstiegspunkt für den Handel mit Farben, die in Lüneburg 1618 dann doch einen großen Anteil ausmachen? Ein zweiter Punkt: Unter den bislang ausgewerteten Listen, ist Lüneburg 1475 die einzige, die vor der „Entdeckung“ und späteren Kolonialisierung Amerikas niedergeschrieben wurde. Natürlich fehlen deshalb auch Waren, die den Zusatz „indianisch“ tragen: Orlean (Terra indica), Gummen wie Anime oder Benzoe, indianische Tafel-Tinte, die teuren Balsame … und indianischer Tabak. Lüneburg 1475 spiegelt so spätmittelalterliche Verfügbarkeiten pharmazeutischer Simplicia und Composita wider, die sich aus der Region und ganz wesentlich aus dem Mittelmeerraum speisten. Woher die Waren genau kamen, darüber gibt uns das Inventarium mit seinen knappen, ausschließlich lateinischen Bezeichnungen keine Auskunft. Und es gibt noch einen dritten Grund, Lüneburg 1475 mit aufzunehmen: Es sind die Namen von Dietrich Arends, Erika Hickel und Wolfgang Schneider zu würdigen, die in den 1950er und 60er Jahren grundlegende pharmaziehistorische Arbeiten vorlegten, von denen wir bis heute profitieren. Ihnen ist die Edition dieses frühesten Lüneburger Inventars zu verdanken! Zu erinnern ist – stellvertretend für viele Generationen – weiterhin an den Apotheker Gert Wellsow, der sich große Verdienste für den Erhalt des historischen Gebäudes der Lüneburger Ratsapotheke und ihres Inhaltes gemacht hat. Hier stemmte sich Einer gegen den Zeitgeist und erhielt damit dem stolzen Lüneburg einen historischen Ort. Doch rundum führten ökonomische Zwänge, Flächenmangel sowie ein eklatanter Mangel an historischem Bewusstsein in den letzten zwei Jahrzehnten zu schmerzlichen Schließungen von Apotheken, die über Jahrhunderte das Bild ihrer Stadt prägten.
Augsburg 1621 ist eine der Augsburger Pharmacopöe angehängte Taxe. Über einen ausführlichen Index werden die zahlreichen Rezepturen der Pharmacopöe erschlossen. Die Taxe listet dann Materialien, die zur Herstellung der zahlreichen Rezepturen benötigt werden. Deshalb fehlen Ocker, Bleigelb oder Berggrün. Der Preis vieler Stoffe – wie der der einfachen Öle - werden als [Taxa] Oleorum communium simpl. zusammengefasst: So wird also ein Loth Leinöl ein Kreuzer gekostet haben. Ungewöhnlicherweise wechseln in den Preisspalten seitenweise die Währungseinheiten: So werden die Zubereitungen in Florin und Kreuzer, die mancher Grundstoffgruppen in Kreuzer und Num. – angesetzt als Pfennige – ausgepreist. Dies gilt für die Succi concreti oder Gummen, die Metallica, Terrae und Lapides. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Taxe eher als Orientierung für die Preisgestaltung der Rezepturen gedient haben kann, jedoch nicht im Alltag der Apotheke Verwendung fand. In Anbetracht der weiten Verbreitung der Augsburger Pharmacopöe hatte die Taxe Augsburg 1621 keine regionale Verbindlichkeit für einzelne Apotheken. Ihr Preisschema gab jedoch sicherlich bei der Erstellung lokaler Taxen wertvolle Orientierung. Augsburg 1710 – wie gewohnt an die Augsburger Pharmacopöe angehängt – weist gegenüber Augsburg 1684 und weitere Augsburger Taxen für wenige Waren höhere Preise auf, scheint jedoch im Sortiment weitgehend übernommen. Die wenigen beobachteten Abweichungen scheinen eher im Sinne von Korrekturen zu verstehen zu sein.
[1] Walther Kern, Die Ratsapotheke zu Helmstedt, in: W. Kern (Hrsg.) Geschichte der Apotheken des Landes Braunschweig, Braunschweig 1941, 56 S., hier S. 31-56.
[2] Siehe hierzu https://www.mz.de/amp/lokal/koethen/den-schlaf-des-vergessens-beendet-2366349 und https://www.koethen-anhalt.de/de/alte-apotheke/alte-apotheke.html, , letztmalig aufgerufen am 31.10.2022
[3] http://historischer-verein-speyer.de/?p=1099, letztmalig aufgerufen am 31.10.2022
[4] Laut Mitteilung Dr. Buchenau, in: Mittheilungen an die Mitglieder des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde Nr. 24 (Februar 1867), S. 18 ff.
Dieser Beitrag ist unter Angabe der Links zu zitieren als Andreas Burmester: An den Rand notiert. Anmerkungen zum Münchner Taxenprojekt (2022), www.taxenprojekt.de.
Zeitstrahl bis 1574 [] ab 1575 [] ab 1600 [] ab 1625 [] ab 1650 [] ab 1675 [] ab 1700 [] ab 1725 [] ab 1750 [] um 1800